Matthias Bensch

,

May 28, 2024

Interview: "Lucius, wo erreiche ich Dich?"

Matthias Bensch hat als wissenschaftlicher Volontär die Fäden der digitalen Anwendung zusammengehalten, die für das LWL-Römermuseum inHaltern am See kreiert wurde. Nachdem in einem Co-Creation-Workshop mit dem Beirat des Projektes verschiedene Konzeptideen entwickelt worden waren und die Entscheidung dann schließlich für „Magic Roads to Aliso“ gefallen war, hat Matthias die Storyline entworfen und der Hauptfigur Leben eingehaucht. „Lucius“–  so der Name des Protagonisten der mobilenApp –  erzählt aus der Innensicht vom Leben eines römischen Legionärs, beleuchtet Themen wie Angst vor der Schlacht oder Heimweh. Kein Wunder, dass Lucius Matthias bei intensiver Beschäftigung so sehr ans Herz gewachsen ist, dass er den inneren Dialog mühelos als Interview niederschreiben konnte.

"

Als wir deinen Charakter wirklich verstanden haben, hat sich uns viel von deiner Geschichte fast automatisch eröffnet, weil wir einfach wussten, wie du in bestimmten Situationen handeln würdest. So eine Charakterentwicklung ist enorm wichtig für das Storytelling.

"

Dr. Matthias Bensch

Wiss. Volontär im Projekt "Blackbox Archäologie"

LWL-Römermuseum Haltern am See

Der Protagonist Lucius im LWL-Römermuseum Haltern am See, Foto: LWL/J.Mühlenbrock

Matthias Bensch: Ave Lucius, wo erreiche ich dich?  

Lucius Petronius Flosculus: Aliso, immer noch Aliso. Als römischer Legionär kann man sich ja nicht unbedingt aussuchen, wo man sein will.

M: Das stimmt. Vielen Dank, dass du dich zu diesem Interview bereit erklärt hast. Wir wollen uns heute unterhalten über die Entwicklung der App“Magic Roads to Aliso”, die im Rahmen des Projektes “Blackbox Archäologie”entstanden ist… und die ja eigentlich mehr ist als eine App, oder? Können wir uns vielleicht einigen auf “interaktives Museums-Erlebnis mit Augmented-Reality-Momenten”?

L: Du kannst das nennen, wie du willst. Für mich ist das einfach mein Leben.

M: Ja, richtig, aus deiner Perspektive ist das natürlich so. Denn du stehst im Zentrum dieser Geschichte, in die man im LWL-Römermuseum in Haltern eintauchen kann. Wir beide kennen uns ja tatsächlich, seit es dich gibt. Aber vielleicht könntest du dich unseren Leser:innen einmal vorstellen?

Co-Creation bei der Erstellung des Charakters des Protagonisten

L: Aber gern. Lucius Petronius Flosculus ist mein Name. Ich bin ursprünglich aus Brixellum in Norditalien. Mein Vater und ich haben Italien allerdings schon verlassen, als ich ein Kind war. Er hat seine Werkstatt nach Gallien verlegt. Er produziert Töpferwaren und wollte in der Nähe der Legionen sein. Denn wo Legionen stehen, kann man meist gut verdienen. Und deswegen ging es dann auch schon bald weiter für ihn und mich nach Germanien ins Gebiet der Ubier …

M: … das ist heute Köln und Umgebung, wenn ich kurz einhaken darf …

L: Und von dort bin ich dann bei Nacht und Nebel abgehauen, um es kurz zumachen. Denn ich hatte gar keine Lust, mein Leben lang als Töpfer zu arbeiten.Ich habe mich daraufhin der römischen Legion angeschlossen, habe mich ausbilden lassen und meinen Eid geleistet. Und ich bin jetzt eben als Legionär in Aliso in Germanien stationiert. Ich sollte vielleicht noch eines über mich sagen, wenn du erlaubst: Im Gegensatz zu meinen Kommilitonen, die vor rund 2000 Jahren wirklich in Aliso stationiert waren, bin ich ja eine Erfindung von den Menschen, die im Blackbox-Projekt mitgewirkt haben.

M: Stark, wie du das reflektierst und wie du damit umgehst. Man könnte ja meinen, dass das ein bisschen eine Identitätskrise auslösen kann, wenn man sich bewusst wird, dass man eine fiktionale Figur ist. Aber es stimmt! Du bist ja im Grunde entstanden in den Prozessen, über die wir heute sprechen wollen, die ko-kreative Entwicklung einer digitalen Anwendung für das Römermuseum. Zusammengearbeitet haben dabei Ehrenamtliche aus unserem Bürger:innen-Beirat, Expert:innen für die Entwicklung solcher digitalen Angebote von der Digitalagentur Neeeu Spaces GmbH und Wissenschaftler:innen und Mitarbeiter:innen aus den beteiligten Museen, u.a. ja auch ich…

L: Dräng dich jetzt bitte nicht in den Vordergrund! Das war eine Team-Leistung.

M: Absolut, absolut! Das wollte ich bestimmt nicht. Du hast ganz recht. Jede einzelne Person, die mitgewirkt hat, war enorm wichtig für den Prozess. Wenn ich überhaupt jemand in den Vordergrund stellen würde, dann wären dies die Personen aus dem Beirat, die viele Stunden ihrer Freizeit geopfert haben, um das mit uns zu machen. Lass uns über die Entstehung der App sprechen …

L: … beziehungsweise das “interaktive Museums-Erlebnis”!

M: Das sagst du jetzt, um mich zu ärgern… Vielleicht schilderst du einfach mal, wie du das alles wahrgenommen hast. Es fing ja alles an mit einem Co-Creation-Workshop.

L: Ja genau, wobei ich mich daran kaum noch erinnern kann. Die Idee zu “Magic Roads to Aliso” ist in ihren Grundzügen dabei bereits entstanden. Aber ich als Hauptfigur war ja noch gar nicht richtig dabei.

M: Ja, das kann ich bestätigen. Ich kann dir auf jeden Fall sagen, dass wirklich enorm viel von dem, was später “Magic Roads to Aliso” geworden ist, auf die “Ideenservietten” zurückgeht, die wir damals in diesen zwei Tagen gemeinsam mit allen Beteiligten entworfen haben. Das fängt bei der Story an. Da war schon klar, dass es eine “Coming-of-Age-Story” wird über eine junge Person, die nach Aliso kommt. Es gab schon Charaktere wie die Seherin (Lieben Gruß übrigens bei Gelegenheit!) … Der Einsatz von Augmented Reality, aber auch von Würfeln, es war alles schon da.

Augmented-Reality an einem römischen Totenbett, Foto: LWL/J.Mühlenbrock

L: … da habe eigentlich nur noch Ich gefehlt …

M: Ja, fast. Ich spar mir jetzt die Retourkutsche für gerade… Du standest dann auch im Anschluss in den nächsten Wochen wirklich im Vordergrund. Das kann man sagen.

L: Das sind dann auch meine ersten Erinnerungen. Eva-Maria von der Digitalagentur und du habt ja meine Geschichte gemeinsam erarbeitet und v.a.auch meinen Charakter geprägt. Ihr seid wirklich tief in meine Gedanken, Gefühle und meine Vorstellungswelten eingedrungen. Es war schon fast ein bisschen übergriffig. Aber euch hat das vermutlich sehr geholfen.

M: Das war wahnsinnig hilfreich. Als wir deinen Charakter wirklich verstanden haben, hat sich uns viel von deiner Geschichte fast automatisch eröffnet, weil wir einfach wussten, wie du in bestimmten Situationen handeln würdest. So eine Charakterentwicklung ist enorm wichtig für das Storytelling.

L: So durchschaubar bin ich auch wieder nicht.

M: Nein, das wollte ich auch nicht sagen. Wir haben uns ja auch bewusst dafür entschieden, dass du immer wieder in Situationen kommst, in denen du dich entscheiden musst, also mit Hilfe der User. Einmal, weil das die Interaktion fördert, und auch, weil wir dich anregen wollten, über deine Situation zu reflektieren, moralische Entscheidungen zu treffen. Denn die Themen beschäftigen die User hinter dir, die oft in deinem Alter sind, ja auch.

L: Sehr nett von euch, dass ihr mich vor all diese Probleme gestellt habt… Entschuldige, wenn das jetzt ironisch klang. Es war zu diesem Zeitpunkt aber gut, dass nicht noch mehr Leute gleichzeitig an mir und meiner Geschichte herumgewerkelt haben. Das wäre mir zu viel gewesen.

M: Das habe ich auch so empfunden, wobei ich sagen muss, dass ich es außerordentlich förderlich fand, dass Eva-Maria und ich in dieser frühesten Entwicklungsphase so intensiv und engmaschig zusammengearbeitet haben, mit Online-Meetings und einem digitalen Whiteboard. Denn es war von Anfang ansowohl die wissenschaftliche Expertise als auch die für das digitale Storytelling gefragt. Und ich kann wirklich nur jeder und jedem empfehlen, der ähnliche Angebote umsetzen will, die Menschen mit diesen Expertisen stetig im Austausch zu halten.

L: Da war aber auch eine Menge Vertrauen notwendig von den anderen Beteiligten im Projekt. Also, so viel Spielraum haben wir in der Legion nicht.

M: Das ist genau der Punkt. Vertrauen, insbesondere von Seiten der Verantwortlichen, ist essentiell für das Gelingen eines solchen Projektes.Glücklicherweise war es zu allen Zeiten gegeben. Und dieses Vertrauen und die Anerkennung von Kompetenzen muss in alle Richtungen gehen: Wir waren davon überzeugt, dass die Mitglieder des Beirats das beste Gespür dafür haben, was ich unsere Zielgruppen wünschen. Gegenüber der Digitalagentur war das Vertrauen da, dass deren Mitarbeiter:innen am besten wissen, wie sich deine Geschichte anregend digital erzählen lässt und wie sich Dinge technisch umsetzen lassen … und und und … ich könnte das so fortsetzen. Außerdem gab esja auch immer wieder eine Rückkopplung mit allen Beteiligten. Wir haben ja den Status der Entwicklung durchweg transparent gehalten, immer wieder Zwischenergebnisse präsentiert und uns Feedback eingeholt.

L: Das war sehr wichtig. Ich erinnere mich. Ich möchte nicht wissen, was mit mir passiert wäre, wenn es nur nach dir gegangen wäre. Du hättest mich ja mal sogar fast in eine Liebesgeschichte hineingezogen.

M: Ja, ich weiß. Es war definitiv nicht meine beste Idee. Ich war selbst nicht überzeugt. Ich habe das nur als Option präsentiert. Entschuldige bitte trotzdem noch einmal! In aller Form.

L: Du verdrehst die Augen, wieso?

M: Dir ist natürlich Latrinendienst lieber als sowas.

L: Ach, jetzt komm mir nicht so!

M: Du weißt schon, dass es mir überhaupt nicht darum ging, dich in Verlegenheit zu bringen. Wir haben bewusst darüber nachgedacht, ob wir mit einer ebenfalls jungen, weiblichen Figur noch mehr Anknüpfungspunkte und Identifikationspotential für Jugendliche und junge Erwachsene schaffen können. Schließlich ist die römische Legion, wie du nur zu gut wissen dürftest, eine reine Männerdomäne.

L: Ja, das stimmt ja alles. Aber doch bitte nicht so plump!

M: Lassen wir das. Reden wir lieber nochmal über die Testings, die wird urchgeführt haben. Für mich waren diese Testläufe zwar nicht das einzige, aber das wichtigste Instrument, um zu prüfen, ob das, was wir uns so gedacht haben, auch in der Praxis funktioniert. Und zwar für die Menschen, die die App am Ende benutzen.

L: Du solltest vielleicht erklären, was wir da gemacht haben.

M: Wir haben Prototypen, also Versionen der Anwendung, die noch nicht in allen Details fertig waren, zweimal testen lassen, von Mitgliedern unseres Beirats.

L: Das waren für mich ganz tolle Erlebnisse. Ich konnte mich endlich mal außerhalb von Texten selbst kennenlernen und mich durch Aliso bewegen.

M: Das Feedback der Tester:innen hat ja auch zu einigen Änderungen und Verbesserungen geführt.

L: Das waren auf jeden Fall Verbesserungen. Sonst hätte ich jetzt zum Beispiel nicht Gnaeus Sulpicius Tutor an meiner Seite, der so viel Hintergrundwissen über die Legionen und auch die Kultur von uns Römern hat.

M: Ein gutes Beispiel! Ein Testing hat uns gezeigt, dass die Nutzer:innen sich noch viel mehr Informationen wünschen, z.B. zu Objekten oder Ritualen, mit denen du in Berührung kommst. Also haben wir den Vermittlungsansatz mit der Figur des Tutor noch einmal deutlich gestärkt.

L: Und vor allem war es gut, dass der sprechende Kopf von Gaius Valerius aus der Geschichte rausgeflogen ist. Was habt ihr euch dabei nur gedacht? Mir läuft es immer noch eiskalt den Rücken runter, wenn ich daran denke …

M: Das war zu drastisch und hat nicht allen gefallen. Deswegen haben wir reagiert. Die Testings haben uns übrigens darüber hinaus besonders dabei geholfen zu erkennen, wo es in dem Teil der User Journey, der sich im Museum selbst abspielt, noch hakt. Wissen die Menschen immer, wo sie hingehen sollen? Verstehen Sie, wann Sie interagieren sollen, wie sie die AR-Sequenzen starten, usw.? Ich würde daher bei solchen App-Entwicklungen immer empfehlen, auch unfertige Produkte schon mit der Zielgruppe zu testen, damit einer:m die Probleme und Fehler nicht erst auffallen, wenn die App schon veröffentlicht ist. Denn dann wird alles viel komplizierter… Lucius, es ist toll mit dir zu reden, aber wir müssen langsam zum Ende kommen …

L: Also, an mir liegt es nicht, dass wir überziehen. Und ich muss auch bald los. Ich bin für den Wachdienst zugeteilt.

M: Ja, ich fasse mich jetzt kurz … Wir haben über viel gesprochen: über dich und deine Geschichte, über das gemeinsame Arbeiten in einem Projekt, das mit den Leuten aus dem Beirat, von der Digitalagentur und aus den Museen Personen mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen und Kenntnissen vereint hat, und über die App-Entwicklung. Sollen wir vielleicht abschließend ein paar Dinge für uns auf den Punkt bringen? Was braucht es, um eine solche digitale Anwendung ko-kreativ zu entwickeln? Zuallererst Vertrauen in die Mitwirkenden, in die Expertisen der einzelnen Personen. Iteratives Arbeiten gewährleistet, dass immer wieder die Perspektiven von allen Beteiligten berücksichtigt werden, und sich das Produkt tatsächlich stetig verbessert. Dabei ist es wichtig, immer wieder wirklich offen in Prozesse und Formate der Reflexion zu gehen, auch bereit zu sein, liebgewonnene Ideen aufzugeben, wenn sie in der Praxis nicht funktionieren. Können wir das so in aller Kürze festhalten?

L: Können wir so festhalten.

M: Hast du sonst noch was hinzuzufügen?

L: Ja, kommt mich im LWL-Römermuseum besuchen! Begleitet mich auf meinen“Magic Roads to Aliso”!

M: Das ist ein sehr guter Vorschlag. Denn wahrscheinlich hilft wohl nichts mehr bei der Entwicklung von digitalen Anwendungen in Museen als möglichst viele schon existierende Beispiele kennenzulernen und sich inspirieren zu lassen. Lucius, ich wünsche dir einen angenehmen, möglichst ereignislosen Wachdienst.

L: Vale, Matthias! Bis bald!